Bürokratie

Eine Schwierigkeit, die wahrscheinlich alle migrierenden Menschen kennen, ist die Begegnung mit Bürokratie. Je nachdem, woher man kommt und wie lange man an einem Ort bleiben möchte, sind mit den Behörden unterschiedliche Dinge zu klären. Das ist zwar notwendig, aber oft nervig. Es dauert lange und manchmal kriegt man nicht direkt alle Informationen, die man braucht. Außerdem kann es auch Schwierigkeiten mit den bürokratischen Verfahren der Länder geben, aus denen ein Mensch ausgewandert ist.

Im Moment brauchen fast alle Menschen ein Visum, die von außerhalb der Europäischen Union (EU) nach Deutschland einreisen. Ausnahmen gelten für Bürgerinnen und Bürger von Staaten, die mit der EU eine Visumsfreiheit vereinbart haben. Das sogenannte Zuwanderungsgesetz entscheidet über den Aufenthalt von Menschen, die länger als drei Monate bleiben. Es gibt darin verschiedene Aufenthaltszwecke und Voraussetzungen nach denen befristete Aufenthaltsgenehmigungen und unbefristete Niederlassungsgenehmigungen erteilt werden.

Aufenthaltszwecke sind zum Beispiel Ausbildung, Arbeit oder Familie in Deutschland. Davon abgesehen erteilt die Bundesrepublik Deutschland Menschen, die aus einem anderen Land fliehen mussten, Asyl und damit eine Aufenthaltsgenehmigung. Voraussetzungen sind zum Beispiel deutsche Sprachkenntnisse, die man in einem Test nachweisen muss. Ja nachdem, wie lange man bleiben will, muss man unterschiedliche Sprachniveaus erreichen, die ‚hinreichende‘ und ‚ausreichende Sprachkenntnisse‘ und ‚Beherrschung der deutschen Sprache‘ genannt werden. Sobald man eine Aufenthaltsgenehmigung oder eine Niederlassungsgenehmigung hat, darf man auch in Deutschland arbeiten. Der Weg zu einer solchen Genehmigung ist allerdings oft sehr lang und schwierig.
Die Formen und Anforderungen an Menschen, die in Deutschland ankommen, haben sich in den letzten Jahrzehnten häufig geändert. An Orten wie der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde kann man Beispiele dafür sehen, wie es für andere Menschen war, in Deutschland anzukommen. Und auch unsere drei Interviewpartnerinnen und Interviewpartner erzählen davon, wie sie die Bürokratie erlebt haben, als sie angekommen sind.

Nur unterscheiben, nicht verstehen
Husseins Erfahrungen

„Wenn ich dieses Bild sehe, fällt mir ein, dass, als ich nach Deutschland gekommen bin, vieles ziemlich komisch war. Ich will hier über die Bürokratie reden. Von Anfang an, gleich nachdem ich angekommen bin, musste ich sehr viele Unterlagen und Papiere unterschreiben. Nicht mal Verstehen, weil das meiste nur auf Deutsch geschrieben war und damals konnte ich kein Deutsch. Manchmal, aber selten war es auf Arabisch, nur, wenn es sehr wichtig war, wie zum Beispiel bei meinem Interview für mein Asyl. Einmal habe ich zu einem Mitarbeiter gesagt: „Ich habe in den letzten zwei Tagen über zwei Millionen mal unterschrieben, das habe ich noch nie in meinem Leben in Syrien gemacht. Schon heftig“ Der Mitarbeiter meinte: Ja, so ist das hier, das ist leider so, wir müssen das machen.“

Bürokratie: Bürokratie steht für den gesamten Verwaltungsapparat eines Staates, inklusive aller Gesetze und Vorschriften. Bürokratie an sich kann man nicht sehen, aber man kann es sich vorstellen wie ein Netzwerk an geregelten Abläufen. Es soll helfen, Gesellschaften durch Verwaltung und Vorschriften zu organisieren, damit die Bürgerinnen und Bürger im alltäglichen Leben davon profitieren und gut miteinander leben könne. In Deutschland gibt es viele Einrichtungen, Behörden und Ämter, die sich mit bestimmten Aufgaben beschäftigen; zum Beispiel die Polizei, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (prüft Asylanträge), Bürgerämter (dort meldest du deine Adresse, wenn du neu in eine Stadt gezogen bist), und viele weitere.

Asyl: Asyl bedeutet Zufluchtsort für politisch verfolgte Menschen. Das Asylrecht ist ein im Grundgesetz von Deutschland festgeschriebenes Grundrecht. Artikel 16a des Grundgesetzes besagt, dass politisch verfolgte Menschen in Deutschland Recht auf Asyl haben. 1951 fand in der Schweiz die Genfer Flüchtlingskonvention statt, wo erstmals mit vielen Staaten ein gemeinsames, internationales Dokument für den Flüchtlingsschutz aufgestellt wurde. Darin wurde festgelegt, wer auf rechtlicher Ebene überhaupt ein Flüchtling ist, welchen Schutz er genießt und welche Hilfe und sozialen Rechte er sich von Ländern erhoffen kann, die dieses Abkommen unterzeichnen. Die Konvention definiert auch, welche Pflichten ein Flüchtling dem aufnehmenden Land gegenüber erfüllen muss sowie welche Menschen oder Gruppen vom Flüchtlingsstatus ausgeschlossen werden. Deutschland hat dieses Dokument unterschrieben und ist verpflichtet, sich an diese Vorgaben zu halten. 1951 bezog sich die Konvention vor allem auf Europa und Flüchtlinge dort; deshalb wurde das Abkommen 1967 durch ein Protokoll erweitert und umfasste ab dann viele weitereGebiete überall auf der Welt. Insgesamt sind bisher 148 Staaten der Genfer Flüchtlingskonvention und/oder dem Protokoll von 1967 beigetreten. Wer also in Deutschland einen Asylantrag stellt, muss nachweisen können, dass er oder sie

1. in seinem Herkunftsland politisch verfolgt wird
2. im Falle der Rückkehr in das Herkunftsland einer schlimmen Menschenrechtsverletzung ausgesetzt werden könnte
3. nicht innerhalb des Herkunftslandes flüchten kann oder anderer Schutz vor Verfolgung nicht möglich ist.

Ausreise aus der DDR
Michaels Erfahrungen

„Meine letzten Jahre vor der Ausreise ’86 habe ich in Potsdam verbracht, die DDR habe ich also mit 26 Jahren verlassen. Um das Land verlassen zu können, habe ich einen Antrag gestellt. Dafür haben Freunde in West-Berlin eine Frau für mich gesucht aus Stuttgart, wir wollten den Behörden eine Scheinehe-Schließung unterbreiten. Also Scheinehe ist jetzt meine Wortwahl, weil wir kein Liebesverhältnis hatten. Wir haben das dann so gemacht, dass sie regelmäßig nach Potsdam gekommen ist um mich zu besuchen. Wir haben uns getroffen, haben dann auch versucht (lacht) uns Liebesbriefe zu schreiben. Das ganze war ein unglaublich zäher Prozess. Nach einigen Ablehnungen, ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, gab’s dann irgendwann einen Anruf ich soll bitte zur Staatssicherheit kommen. Ich bin dann dort hingekommen, wurde vorgeladen und dann saß mein unsympathischer Sachbearbeiter vor mir. Ein widerlicher Kerl, ich kann es mir leider nicht verkneifen ihn zu beschreiben: Mit Siegelring und mit Pomade im Haar. Er sprach mich in der dritten Person an und fragte: „Will er denn dort hin, wo das Wolfsgesetz herrscht?“ Ich fragte: „Was?“ Ob ich denn immer noch in Westen will. Ich sagte: „Ja…“ Und sein letzter Satz war: „Gut, dann machen wir die Papiere fertig.“ Der Tag als es dann genehmigt wurde, war überhaupt nicht greifbar. Ich dachte: „Wow, was war das denn?“ Ich hab dann meine Mutter angerufen und wir waren dann auch gleich Sekt trinken. Mein Ausreisetermin nach West-Berlin war dann der 20. März 1986.“

Antrag gestellt: Von 1949 bis 1991 gab es zwei deutsche Staaten. Viele Menschen wollten in dieser Zeit von der DDR in die BRD ziehen und umgekehrt. Michael Peters war einer von Ihnen.
West-Berlin – Vom Osten, der DDR in den Westen, die BRD zu gehen, wurde immer schwieriger. Das sozialistische Ost-Deutschland begann eine Mauer an seiner Grenze zu bauen. Für Menschen wie Michael wurde es schwer zu gehen, sie brauchten einen genehmigten Ausreiseantrag.
Staatssicherheit:Das Ministerium für Staatssicherheit, auch MfS, Staatssicherheit oder Stasi genannt, war die Geheimpolizei der DDR und sollte Staat und Bürgerinnen und Bürger schützen. Auch die Vernehmung von Menschen, die das Land verlassen wollten fiel unter die Aufgaben der Stasi.
Wolfsgesetz:Der Beamte wollte mit seiner Wortwahl wahrscheinlich darauf anspielen, dass er den kapitalistischen Westen unmenschlich und grausam fand.
Scheinehe: Michael durfte das Land nur verlassen, weil er so tat als ob er eine Frau aus Westdeutschland geheiratet hat. Scheinehen schlossen viele Menschen, die aus der DDR ausreisen wollten.. Das war nicht leicht. Die Menschen mussten sich eine Liebesgeschichte ausdenken und wurden dann häufig überwacht.

Tests und Wartezeiten
Marias Erfahrungen

„Als meine Eltern verreist sind, haben sie alle Unterlagen, darunter auch meine, in die Botschaft geschickt. Danach habe ich den Sprachtest in dieser Botschaft abgelegt, um das Verfahren zu beschleunigen. Im Prinzip habe ich keine Probleme damit gehabt. Ich habe alles verstanden, was mir gesagt wurde. Aber trotzdem… Ich habe so lange nicht Deutsch gesprochen, ich hatte Angst, dass ich etwas Falsches antworten könnte oder dass sie mich nicht verstehen. Immerhin unterscheidet sich unser altertümlicher Dialekt, den wir gesprochen haben, von Hochdeutsch. Insgesamt habe ich den Sprachtest etwa drei, vier Male abgelegt. Als ich zum letzten Mal den Test abgelegt habe, wurde ich in den Landkreis eingeladen und habe dort fast 4 Stunden verbracht. Da haben sie mir absolut blöde Fragen gestellt: „Wie haben Sie Feste gefeiert? Was haben Sie gekocht? Wie haben Sie sich gekleidet? Was haben Sie in der Schule gemacht?“ All das sollte ich erzählen. Am Ende wussten sie nicht, was sie noch fragen können. Eine Frau hat das Wörterbuch geöffnet und hat mich nach der Bedeutung verschiedener Wörter gefragt. So sollte ich nachweisen, dass ich eine Deutsche bin. Ich sollte den 4. Paragraph beweisen und ich habe ihn bekommen.“

4. Paragraph: Maria Steinbrenner ist Ende der 1990er Jahre als sogenannte „Spätaussiedlerin“ aus Osteuropa in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Diese Menschen konnten die deutsche Staatangehörigkeit beantragen, weil sie wegen ihrer eigenen oder der Geschichte ihrer Familie zu deutschen Volksangehörigen erklärt wurden. Das sogenannte Bundesvertriebenengesetz gibt ihnen eine besondere rechtliche Möglichkeit, in die Bundesrepublik umzusiedeln. Das Gesetz definiert auch, wer alles zur Gruppe der Spätaussiedler zählt. Maria erfüllt alle Kriterien des Bundesvertriebenengesetzes: ihre Eltern waren deutsche Volkszugehörige, die nach dem 2. Weltkrieg nach Zentralasien verschleppt worden waren. Außerdem spricht sie Deutsch und ihr sind deutsche Bräuche und Traditionen in ihrer Familie vermittelt worden. Deswegen wurde sie in Deutschland als Spätaussiedlerin anerkannt und hat die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen.

„Ich habe viele Dokumente benötigt, aber ich kann nicht sagen, dass es viele Schwierigkeiten gab. Natürlich sind wir in langen Schlangen gestanden, aber alles war klar… Zuerst wurden wir in Marienfelde registriert. Anfangs haben wir bei meinen Eltern gewohnt, danach habe ich eine kleine finanzielle Unterstützung bekommen, ein Bettzeug, eine Waschmaschine, eine 2-Zimmer-Wohnung.“

In Marienfelde registriert: Für Spätaussiedler gibt es ein spezielles Aufnahmeverfahren. Die Menschen müssen schon in ihrem Herkunftsland einen Antrag stellen. Erst, wenn dieser Antrag bewilligt wird, dürfen sie in die Bundesrepublik einreisen. Nach der Ankunft werden sie in Aufnahmestellen registriert – so wie Maria in Marienfelde. In einem weiteren bürokratischen Verfahren bekommen die Menschen eine Bescheinigung über ihren Status als Spätaussiedler. Damit steht ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft zu. Die Bescheinigung gibt den Menschen aber auch die Möglichkeit, bestimmte Vergünstigungen und Leistungen erhalten, zum Beispiel eine sogenannte Eingliederungshilfe, also eine bestimmte Summe Geld für den Neuanfang.

Unsere Interviewpartnerin und Interviewpartner


Michael Peters, Jahrgang 1960, verließ mit 26 Jahren die DDR. Nach seiner Ankunft arbeitete er als Elektroinstallateur und war in der Westberliner Häuserbewegung aktiv. Peters lebt heute in
Kreuzberg.


Hussein hat seine  Heimatstadt Damaskus, Syrien, im Herbst 2015 verlassen.  In seinem Interview erzählt er, was Ankommen für ihn bedeutet und wie schwierig es manchmal sein kann, sich an einem fremden Ort ein neues Leben aufzubauen. Zurzeit wohnt und arbeitet Hussein in Berlin.


Maria, Jahrgang 1959, hat Kasachstan im Winter 1997 mit ihrer Tochter verlassen. Nach der Ankunft wurde sie in Deutschland als Spätaussiedlerin anerkannt. Zurzeit wohnt und arbeitet Maria in Berlin.